Anfrage Schweizerisches Literaturarchiv und Nutzung von gemeinfreien Werken

Das Schweizerische Literaturarchiv sammelt literarische Nachlässe und Archive aus der Schweiz. Darunter sind auch Nachlässe von Autoren und Autorinnen, welche gemeinfrei sind. Dazu gehört beispielsweise Annemarie Schwarzenbach, Hugo Ball oder Maria Waser. Das Literaturarchiv ist Bestandteil der Nationalbibliothek der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Im Rahmen unserer Aktivitäten rund um den Public Domain haben wir dem Literaturarchiv einige Fragen gestellt.

AUFGABE DES ARCHIVS

Was ist die zentrale Aufgabe Ihres Archivs in Bezug auf Werke? Was ist Ihnen wichtig bei der Nutzung dieser Werke?

Das Schweizerische Literaturarchiv (SLA) versteht sich in erster Linie als Gedächtnisspeicher für Materialien betreffend die vier Schweizer Literaturen. Wir sammeln, ordnen und archivieren die uns anvertrauten Nachlässe und Archive und werten sie nach Möglichkeit auch aus. Die Ergebnisse werden in verschiedenen Gefässen an die interessierte und fachspezifische Öffentlichkeit getragen: Publikationen (Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs) und Passim (Newsletter des SLA); Veranstaltungen (Autorenabende, Buchpräsentationen, Tagungen, Kolloquien, Sommerakademie, Forschungsprojekte). Dabei streben wir je nach Gefäss und Thema auch Kooperationen mit verwandten Institutionen an.

Editionen realisieren wir als Pilotprojekte zu besonders wichtigen Materialien aus unseren Beständen. Als Ergebnis eines SNF-Projektes ist die textgenetische Edition von einer Entwurfshandschrift zu erwähnen: Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, das Berner Taschenbuch. Ein Faksimile mit Transkription. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. Erst die wissenschaftliche Erschliessung macht aus einem ungeordneten Materialhaufen ein nachgelassenes Werk, das angemessen rezipiert werden kann. Dabei befördert die Critique génétique die Einsicht in dessen Entstehung. 

Welche Chancen und Risiken sehen Sie darin, dass die Werke gemeinfrei werden?

Die Chancen bestehen sicherlich darin, dass Werke, die in Vergessenheit geraten oder nicht mehr zugänglich sind, auf unkomplizierte Weise wieder zur Verfügung gestellt werden können. Allerdings denke ich, dass es damit aus zwei Gründen nicht getan ist:

Erstens benötigen gerade diese älteren Werke in der Regel einen sorgfältig ausgearbeiteten Kommentar, wenn sie heutigen Lesenden in einer sinnvollen Weise nicht nur zugänglich, sondern eben auch verständlich gemacht werden sollen. Zweitens reicht die Zugänglichkeit eines Textes nicht aus, um einen Autor ins Bewusstsein des Lesepublikums zurück zu rufen. Es braucht flankierende Massnahmen wie z.B. vermittelnde Tätigkeiten, das können Forschungsprojekte sein, universitäre Veranstaltungen, Tagungen oder Lesungen.

Ein Beispiel: Der Innerschweizer Autor Heinrich Federer, gestorben 1928, zu seiner Zeit ein bekannter und geschätzter Autor mit vergleichsweise hohen Auflagen, ist nach ca. 1970 vollständig in Vergessenheit geraten. Vor einiger Zeit wurde im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt festgestellt, dass viele seiner Werke im Digitalisierungsportal Gutenberg oder über Kindle zugänglich sind (vgl. http://gutenberg.spiegel.de/buch/4705/1). Ein Band mit Texten von Federer (Schwerpunkt: Feuilletons und einige Erzählungen mit umfangreichem Kommentarteil) ist im Literaturarchiv in Vorbereitung. Federer wurde anlässlich einer universitären sowie zweier wissenschaftlicher Veranstaltungen in Fachkreisen behandelt, und zwar im Kontext des Forschungsprojektes „Blick nach Süden. Zum Italienbild in der deutschsprachigen Literatur der Schweiz seit 1861“. Wir hoffen, damit den Boden zu einer Federer-Rezeption in einem neuen Kontext vorbereitet zu haben. Die Online-Ausgaben haben in dieser Hinsicht in meiner Wahrnehmung kein Echo ausgelöst.

Ich nehme an, dass diese verschiedenen Medien und Plattformen ineinander greifen müssen, um ein Werk, einen Autor oder eine Autorin ausserhalb eines engen Zirkels von Forschenden wieder ins Bewusstsein eines Lesepublikums zurück zu rufen. Es genügt bei weitem nicht, Werke zu digitalisieren und online zu stellen. Aber genau dieses Bewusstsein und die entsprechenden Vernetzungen und Kontextualisierungsmassnahmen fehlen meiner Wahrnehmung nach bis anhin, die Euphorie der freien Zugänglichkeit über Internet ist noch sehr gross  – und das lässt gegenwärtig einer gewissen Beliebigkeit Raum. Ich denke, neue Einsichten zu einer erweiterten Nutzung dieser interessanten Möglichkeit werden sich irgendwann durchsetzen.

ZUGANG ZU DEN WERKEN

Internet und digitale Medien ermöglichen es, die Werke der Urheberin in einer neuen Art zugänglich zu machen und zu vermitteln. Werden die neu gemeinfreien Werke oder digitale Versionen der Werke von Ihnen ab1.1.2013 aktiv zugänglich gemacht und über digitale Medien neu vermittelt? Weshalb? Weshalb nicht? Unter welchen Bedingungen würden Sie es tun?

Die Aufgabe des SLA ist in erster Linie die Pflege des uns anvertrauten Archivgutes, das vornehmlich aus Handschriften und Typoskripten sowie den dazugehörigen Materialien besteht. Fallweise strengen wir ein Forschungsprojekt an, das auf unseren Materialien aufbaut, aber nach anderen Kriterien ausgewählt wird. Der Aufwand für die Aufbereitung von Archivalien ist enorm, daran ändert auch der neue Rechtsstatus nichts. Aus diesen Grund werden wir die Debatte um die Vermittlung gemeinfreier Werke nicht führen und in dieser Hinsicht auch nicht systematisch aktiv werden.

Das Urheberrecht sagt ja ganz klar: Die Werke sind 70 Jahre nach dem Tod frei. Wie kann nun ein einfacher Bürger ein Werk erfragen oder erhalten, bei dem die Urheberrechte abgelaufen sind? Welche Bedingungen würden Sie auf alle Fälle an den Benutzer stellen?

Der gedruckte Text eines Werkes steht auch ausserhalb des SLA zur Verfügung, da sind wir nicht unbedingt erst Anlaufstelle, selbst wenn es eine Autorin oder einen Autor aus unseren Beständen betrifft.

Hinsichtlich des Vorgehens ein gedrucktes Werk betreffend würde ich Ihnen folgendes Procedere empfehlen: Sie können Reproduktionen von gemeinfreien publizierten Werken – digital oder gedruckt – über die Nationalbibliothek bestellen. Suchen Sie die Publikation in www.nb.admin.ch/helveticat. Wenn sie älter als 110 Jahre ist, erscheint der EOD-Button (EOD steht für e Book on Demand). Ist sie dagegen jünger als 110 Jahre, bestellen Sie sie über das leere EOD-Formular http://www.books2ebooks.eu/odm/orderformular.do?formular_id=242&lang=de. Im Feld „Anmerkungen“ ist zu vermerken, dass die Publikation gemeinfrei ist. Andere Bedingungen als die der Gemeinfreiheit gibt es nicht. Für allfällige Fragen steht swissinfodesk@nb.admin.ch zur Verfügung.

Wenn es sich dagegen um die Wiedergabe von (unpublizierten) Archivmaterialien (Manu- oder Typoskripte) handelt, dann ist eine Publikation derselben den Nutzungs- und Publikationsbedingungen des SLA unterstellt. Diese sehen vor, dass Publikationsvorhaben unserer Genehmigung unterstehen. Das hat nicht nur mit – im gegebenen Fall ja nicht mehr relevanten – Urheberrechtsfragen zu tun, sondern auch mit solchen des Persönlichkeitsrechtes.

NUTZUNG DER WERKE IN DER ZUKUNFT

Die Werke können auch zur Erstellung neuer Werke genutzt werden, bspw. in der Form von Adaptionen, Übersetzungen oder Mash Ups. Wird eine Wiederverwendung und Bearbeitung der Werke gefördert? Weshalb? Weshalb nicht?

Dieser Aspekt liegt etwas weit ab von unseren Kernkompetenzen, in diese Debatte werden wir uns deshalb nicht einschalten. Die Initiative liegt bei den Nutzenden, nicht beim SLA.

Welche Chancen sehen Sie in Hinsicht auf die neuen Nutzungsformen für die Vermittlung der Werke für Ihr Archiv?

Wie schon gesagt: Die Zugänglichkeit von Werken über das Internet stellt für Forschung und Lehre eine grosse Bereicherung dar – aber die entsprechende Kontextualisierung darf auf keinen Fall vernachlässigt werden, und genau da sehen wir unsere Aufgabe, die nicht delegiert werden kann.

Vielen Dank an Dr. Corinna Jäger-Trees vom Schweizerischen Literaturarchiv für die Beantwortung der Fragen